Der 7. Oktober – Zwei Jahre später

Foto: Ashraf Amra – UNRWA: United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, CC BY-SA 3.0 igo, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=161860911

Heute ist der 7. Oktober. Ich weiß es noch genau: Heute vor zwei Jahren saß ich erschöpft von einem langen Tag auf der SPIEL in Essen in einem chinesisch-mongolischen Buffet-Restaurant in Mülheim an der Ruhr, und mein Freund Jan, der mir gegenüber saß, checkte die Nachrichten des Tages, die uns durch den hektischen Standdienst entgangen waren, auf dem Handy und sagte: „Wir haben einen 2. Krieg. Diesmal in Nahost.“

Zwei Jahre ist es her, dass die Hamas, eine Terrororganisation mit dem fehlgeleiteten Anspruch, für Palästina zu sprechen, Israel überfallen hat – ein Tag, der sich in die kollektive Erinnerung eingebrannt hat. Der Schock, die Angst, die Verzweiflung: all das war damals real und ist es noch heute. Die Gräueltaten dieser Angriffe, in weiten Teilen gefilmt auf den Bodycams der Täter, waren unmenschlich, sie verdienen keinerlei Relativierung.

Doch die Geschichte dieses Konflikts beginnt nicht an diesem Tag – und wir dürfen sie gedanklich schon gar nicht dort enden lassen.

Denn was danach geschah, ist eine Tragödie, die in ihrem Ausmaß kaum zu begreifen ist. Der gesamte Gazastreifen liegt in Trümmern. Hunderttausende Menschen haben ihre Häuser verloren. Kinder wachsen in Ruinen auf, ohne Zugang zu sauberem Wasser, Nahrung oder medizinischer Versorgung. Hilfslieferungen verrotten an der Grenze, weil die IDF sie nicht ins Land lässt. Ganze Familien vergehen unter den Detonationen eines Krieges, der längst keine Unterscheidung mehr kennt zwischen Kämpfer:innen und Zivilist:innen.

Die von Rechtsradikalen maßgeblich getragene israelische Regierung beruft sich in ihrem Vorgehen auf das Recht auf Selbstverteidigung – einem Recht, das jedes Land hat. Doch wenn die Verteidigung zu einer Zerstörung ohne jedes Maß wird, wenn sie Leben für Leben auslöscht und jegliche Hoffnung für ein ganzes Volk zerbombt, wenn ihr Vorgehen namhafte Völkerrechtler:innen ein Problem dazu bringt, von Genozid zu sprechen, dann muss man fragen, worin sie sich noch von dem unterscheidet, was sie zu bekämpfen vorgibt.

Was mich besonders beschäftigt, ist das Schweigen. Sicher, es wird viel demonstriert, es werden Parolen gerufen, aber das ist ja nur Lärm.

Mir geht es um das Schweigen derer, die eigentlich gelernt haben sollten, dass Menschenrechte unteilbar sind.

Das Schweigen der deutschen Politik, die sich lieber in Floskeln flüchtet, als moralische Konsequenzen zu ziehen. Die hinter einem vordemokratischen, von Angela Merkel seinerzeit sehr unbesonnen besetzten Begriff wie Staatsräson Zuflucht sucht, statt verantwortungsvolle Politik zu machen.

Ich meine aber auch das Schweigen vieler von uns – aus Angst, das Falsche zu sagen, in einem Diskurs der kaum noch Platz für Zweifel oder Mitgefühl lässt. Ich kann hervorragend damit leben, mit dem von mir ansonsten sehr geschätzten Songwriter Heinz Rudolf Kunze inhaltlich über Kreuz zu liegen, der sich vehement für fortgesetzte Waffenlieferungen nach Israel einsetzt, weil das Land die einzige Demokratie im Nahen Osten sei – immerhin trägt er sein Herz auf der Zunge, und ich weiß bei ihm, was er meint und will.

Ohne jetzt die Wahrheit vom Jahrhundert-Verbrechen wiederholen zu wollen, die so talkshowdurchgenudelt ist, dass sie inzwischen bloß noch zur Phrase taugt: Deutschland trägt in diesem Konflikt eine besondere Verantwortung. Eine Verantwortung, die aus der Geschichte erwächst – aber nicht in ein Schweigen münden darf, wenn die Regierung eines befreundeten Landes (und ich sage bewusst nicht: eine befreundete Regierung) eine Politik betreibt, die jedes Maß, jedes Ziel verloren hat und zahllose Unschuldige das Leben kostet.

Es reicht nicht, irgendwann keine Waffen mehr zu liefern, wenn diese in Gaza zum Einsatz kommen könnten (was für ein wachsweiches Gerede!).

Es reicht nicht, auf diplomatische „Zeichen der Besorgnis“ in Endlosschleife zu setzen.

Verantwortung bedeutet, das eigene ebenso wie das fremde Handeln zu prüfen – und im Zweifel den Mut zu haben, Nein zu sagen.

Nein zu einer Kriegsführung, die aus Rache, die niemals politische Kategorie sein darf, die Menschlichkeit preisgibt.

Nein zu einer Politik, die glaubt, Leid könne Leid auslöschen (und die selbst verständlich auch den Geiseln nichts nützt).

Nein zu einem Diskurs, der Mitgefühl mit verhungernden Kindern zum Antisemitismus erklärt.

Ich glaube, dass Frieden genau dort beginnt, wo man das Leiden aller anerkennt – ohne es gegeneinander aufzurechnen.

So wie Verantwortung genau dort beginnt, wo man hinschaut, auch wenn es weh tut.

Talking About a Revolution

(… like a whisper)

(Foto: Public Domain, recoloured w/PhotoShop)

Nicht jede Revolution braucht ein Banner.
Manche beginnen mit einem Flüstern.
Mit einem kaum hörbaren „Nein“, das dennoch Bestand hat.
Oder mit einem „Ja“, das jemand lange auf der Zunge trug und endlich ausspricht.

En-passant-Revolutionen.
In der endlos kurzen Pause zwischen zwei Sätzen.
In einem Blick, der nicht urteilt.
In einer ausgestreckten Hand.

Wenn uns die großen Revolutionen überfordern: fangen wir mit den kleinen an.
Wir konstatieren den unaufhaltsamen Wandel der Welt, das Scheitern der Systeme, den Verlust der Gerechtigkeit –
aber Veränderung donnert selten.


Sie flüstert.
Sie tropft.
Sie sickert.
Sie wächst im Verborgenen.

Vielleicht beginnt sie, wenn jemand sich entscheidet,
Mal einen Tag lang nicht zynisch zu sein (I’m looking at you, Ulf Poschardt).
Oder wenn jemand endlich ehrlich zugibt: „Ich weiß es nicht.“
Wenn Stille nicht peinlich ist, sondern angenehm.
Wenn jemand zuhört, ohne die Worte seines Gegenübers als lästige Störung für die Fortsetzung des eigenen Monologs zu empfinden.
Wenn Güte nicht länger als Schwäche missdeutet wird.

Veränderung fängt an, wenn wir dem Anderen Raum geben.
Es sind nicht immer die Lauten stark, sagt Konstantin Wecker. Lest dieses Gedicht. Er hat ja so recht.
Vertrauen statt Kontrolle.
Mut statt Angst.
Raum zum Atmen.

Große Revolutionen schreiben Geschichte.
Kleine Revolutionen ermöglichen Zukunft.

Vielleicht reicht das ja für heute mal.

Schwerter, Schottenröcke und Schmetterlinge im Bauch

Oder: Ein Übersetzer auf Abwegen

Manchmal landet man als Übersetzer an Orten, an denen sich wiederzufinden man selbst nie erwartet hätte. In meinem Fall sind dies die schottischen Highlands, die ich ja wegen Menschen, Landschaft und Whisky sehr schätze – aber in diesem Fall die des 18. Jahrhunderts, zwischen Burgen, Kilts und einer gehörigen Portion Herzklopfen.

Ja, richtig gelesen: Ich habe einen schottischen historischen Liebenroman oder, wie der alles bestimmende Buchvertrieb sagen würde, Romance-Titel übersetzt. Er heißt Die Täuschung des Highlanders (Die Sutherlands von Dornoch Castle 1) und stammt aus der Feder von Callie Hutton.

Warum ausgerechnet dieses Buch?

Jetzt könnte man sagen: „Moment mal, Oliver – ist das nicht ziemlich weit weg von düsteren Vampir-Intrigen, politischen Ränkespielen und epischen Fantasy-Konflikten?“ Ohne Zweifel. Aber genau das macht’s so spannend: Denn auch Highlander mit Geheimnissen, Verwechslungen und einer ordentlichen Portion Leidenschaft haben ihren ganz eigenen Reiz – zumindest für die riesige Leser:innenschaft dieses Genres.

Für mich war es ein neuerlicher Ausflug in eine ganz andere Welt, in der ich mich auch früher schon ab und an getummelt habe. Statt Drachen oder Dystopien ging es diesmal darum, gute Dialoge, feine Nuancen von Humor und Romantik und das richtige Maß an Drama in die deutsche Fassung zu bringen. Klingt leichter, als es ist – denn bei Liebesromanen zählt jeder bedeutungsschwere Blick, jede Geste, jeder Seufzer!

Außerdem ist es mein erster Versuch, mit einer Selfpublisherin auf reiner Gewinnbeteiligungsbasis zusammenzuarbeiten – ein neues ökonomisches Modell, auf das ich neugierig war/bin.

Wer ist Callie Hutton?

Die Autorin ist in den USA längst eine feste Größe. Sie hat über vierzig (!) historische Liebesromane veröffentlicht und viele begeisterte Leser:innen gefunden. Ihre Markenzeichen sind lebendige Figuren, jede Menge Herz und Settings, die nicht nur Kulisse sind, sondern richtig atmen – mal viktorianische Ballsäle, mal Londons Gassen, mal wie in meinem Fall die Highlands.

Was habe ich dabei gelernt?

So einiges. Vor allem, dass Liebesromane zu übersetzen genauso viel Fingerspitzengefühl verlangt wie eine komplexe Fantasy-Welt. Dass es nicht einfach ist, historische Details erst zu checken und dann sprachlich elegant einzubauen und dass ein Kilt tatsächlich mehr kulturelle Symbolkraft hat, als man im ersten Moment glaubt.

Ich gestehe: Es hat Spaß gemacht. Ein bisschen wie Urlaub vom eigenen Genre – nur ohne Whiskyglas (na ja, nicht immer) und Dudelsack, dafür mit dict.cc und Dragon.

Was kommt als Nächstes?

Also, wer Lust hat, mich mal auf ungewohntem Terrain zu erleben – hier ist die Gelegenheit. Aber keine Sorge: Ich werde jetzt nicht ausschließlich Highlander-Liebesromane übersetzen … wahrscheinlich. 😉 Aber die Romance lässt mich nicht los: Aktuell sitze ich an einem Eishockey-Liebesroman mit „spicy parts“ …

👉 Neugierig auf die Sutherlands geworden? Hier geht’s direkt zum Buch.

AfD-Verbot jetzt!

Warum ein AfD-Verbot demokratisch nicht nur vertretbar, sondern geboten ist

Die Debatte um ein mögliches Verbot der AfD ist selbst in „meiner“ linksliberalen und zumeist von intelligenten Köpfen geprägten Bubble keineswegs ausgemachte Sache. Ich meine, sie verdient mehr als bloße Empörung. Sie verlangt kluge Analyse, klare Haltung und den Mut, die bundesdeutsche Demokratie ernst zu nehmen. Hier my 5 Cents:

1. Kein Angriff auf die Wählenden

Ein Parteiverbot richtet sich nicht gegen Menschen, die die AfD wählen, sondern ausschließlich gegen die strukturelle Organisation, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung aktiv bedroht und sie von ihr alimentiert von ihnen zu zerstören sucht. Das Grundgesetz ist wehrhaft – und das ist gut so und muss genutzt werden.

2. Verfassungsschutz und politische Verantwortung

Bereits 2019 nannte der Verfassungsschutz Äußerungen von Beatrix von Storch (AfD), einer irrlichternden Parlamentarierin, der Monarchie nachtrauert und deren Großvater (von dem sie sich nie distanziert hat) Minister unter Hitler war, als Indizien dafür, dass die Partei eine gegen die Demokratie gerichtete Organisation sein könnte. Diese Aussagen – etwa zur Überwachung von Moscheen und zur pauschalen Verbindung muslimischer Erziehung mit Gewalt – allein liefern aus meiner Sicht handfeste Begründungen für ein Verbotsverfahren.

3. Vom Reden zur Tat: Beispiele rechter Mobilisierung

Drei aktuelle Ereignisse zeigen, wie die AfD und ihr Umfeld gezielt demokratische Abläufe angreifen.

  • Remigrationsrede: In Reden wie der von Höcke zur Remigration ist eine klare Ablehnung des demokratischen Konsenses und ein aggressives Umsturz-Narrativ zentral – das hat Methode und ist nicht etwa ein Lapsus Linguae des AfD-Geschichtslehrers.
  • Kampagne gegen Prof. Frauke Brosius-Gersdorf: Die AfD betrieb zusammen mit ihr nahestehenden Medien eine orchestrierte Hetzkampagne gegen die SPD-Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, Frauke Brosius-Gersdorf. AfD-nahe Plattformen und Social Media sowie das rechte Hetzkonglomerat Nius verbreiteten Falschbehauptungen. So habe sie Abtreibung bis zum neunten Monat befürwortet, obwohl sie sich klar auf die 12. Woche festlegte und damit lediglich bundesrepublikanische Verfassungswirklichkeit seit den siebziger Jahren schilderte.
    Diese Hetzkampagne eskalierte schnell mit juristischen Anschuldigungen, religiöser Diffamierung und persönlichen Angriffen. Auch CDU-Kreise reagierten, man verschob die Wahl, und Brosius-Gersdorf zog ihre Bereitschaft zur Kandidatur schließlich zurück.
  • Saskia Ludwig und Joana Cotar (AfD): Die frühere AfD-Abgeordnete Joana Cotar forderte unter anderem via X die CDU-Politikerin Saskia Ludwig auf, die Wahl Brosius-Gersdorfs zu verhindern. Ludwig antwortete darauf schnippisch mit „Erledigt“.
    Auch das ist weder Zufall noch parteipolitisches Taktieren, sondern gezielte, strategische Destabilisierung demokratischer Institutionen.

4. Demokratisch, aber klar in der Haltung

Ein Parteiverbot nach Artikel 21 GG ist keineswegs ein autoritäres Mittel, sondern Ausdruck einer wachsamen Demokratie. Die Hürden sind hoch – und das ist gut so. Trotzdem gibt es klare Gründe: Eine Partei, die systematisch verfassungsfeindlich handelt, darf nicht weiterhin im Parlament operieren.

5. Folgen eines Verbots

  • Strukturelle Schwächung rechtsextremer Netzwerke: Es entsteht eine Signalwirkung, die besagt, dass die Demokratie sich schützt und sich nicht aushöhlen lässt. Außerdem sparen wir Steuergelder – AfD hat den Bundeshaushalt seit ihrem Einzug in den Bundestag schon über 1 Milliarde € gekostet.
  • Politische Neuausrichtung der Wähler:innen: Der Raum für legitime konservative Angebote bleibt gewahrt, Radikalisierung hingegen wäre fortan erschwert, zumal das Parteienverbot automatisch das Gründen von Nachfolgeorganisationen mit verbietet.

Fazit

Ein Verbot der AfD wäre weder eine bloße symbolische Geste noch ein demokratiedestruktiver Tabubruch, wie viele klammheimliche AfD-Freunde im Gestus der Demokratieretter:innen jammern, sondern die notwendige Verteidigung der demokratischen Idee selbst. Nur so können wir verhindern, dass eine protofaschistische, antidemokratische, autoritäre, fremdenfeindliche, frauenfeindliche, queerfeindliche Bewegung unter dem Deckmantel politischer Freiheit weiter Fuß wuchert.

Schwäbisch, Türkisch, Grün, Unwählbar

Zwischen Markt und Moral: Warum Özdemirs „bürgerlicher Klimaschutz“ nicht reicht


Cem Özdemir, grüner MP-Kandidat hier in Baden-Württemberg, warnt vor einem „Linksruck“ der Grünen – und trifft damit einen Nerv. Vor allem meinen.

Wenn Özdemir seine Partei zur „einzigen bürgerlichen Oppositionspartei“ erklärt und den Markt zum Klimaverbündeten (also den Bock zum Gärtner) machen will, klingt das in der Tat wie eine Bewerbung – nur leider nicht für mutige Politik, sondern für die Koalitionsverhandlungen von morgen mit anderen sich als bürgerlich apostrophierenden Wirtschaftslobbyparteien. Seine Forderung: weniger Umverteilungsdebatten, mehr Vertrauen in marktwirtschaftliche Lösungen. Übersetzt heißt das: Ich scheiße auf soziale Gerechtigkeit, solang’s beim Daimler und bei Heckler&Koch brummt. Das passende Schreckgespenst hat er auch im Gepäck: Lasst uns nicht wie die SPD enden, also als marginalisierte Ex-Volkspartei. Doch wer so redet, hat längst begonnen, wie die CDU zu denken.

Denn was hier als „Zurück zum Markenkern“ verkauft wird, ist in Wahrheit die endgültige Preisgabe des grünen sozialökologischen Projekts. Klimaschutz ohne soziale Gerechtigkeit ist nicht nur blind – er ist im Ansatz elitär und im Ergebnis unwirksam. Wer Transformation ernst meint, muss erklären, wer sie bezahlt – und wer das nicht tut oder das Geld nicht an den richtigen Stellen holt, treibt die Verlierer:innen dieser Umbrüche genau dorthin, wo Özdemir sie fürchtet: zur AfD.

Seien wir uns im Klaren darüber: Allein die Frage der Verteilungsgerechtigkeit entscheidet, ob wir als Gesellschaft durch die Klimakrise zusammenrücken oder (weiter) auseinanderbrechen – und ob wir ihr wirkunsgvoll etwas entgegensetzen können. Reichtum umverteilen, Konzernmacht brechen, Frieden über Aufrüstung stellen – das sind keine Altlinken-Parolen, sondern politische Überlebensfragen in einer Zeit multipler Krisen.

Özdemir sagt, die Grünen sollten keine bessere Linke sein (wollen). Vielleicht sollte er sich lieber fragen, ob sie noch eine glaubwürdige grüne Partei sind, wenn sie die soziale Frage so konsequent ignorieren. Denn zwischen Markt und Moral liegt ein Abgrund – und wir müssen wählen, auf welcher Seite davon wir stehen wollen.

Ein Urteil wider das Vergessen

Tuvalu kämpft ums Überleben. Wir um den Erhalt des Status quo.

Funafuti, Hauptstadt von Tuvalu. Foto: Lily‑Anne Homasi / DFAT (2011), via Wikimedia Commons (CC BY 2.0)

Gestern schrieb ein kleiner Inselstaat in Ozeanien Geschichte: Tuvalu und eine Gruppe weiterer vom steigenden Meeresspiegel bedrohter Nationen errangen vor dem Internationalen Gerichtshof einen Etappensieg für das Klima. Der IGH bestätigte, was moralisch längst klar war: Staaten sind völkerrechtlich verpflichtet, ambitionierten Klimaschutz zu betreiben – nicht irgendwann, sondern auf der Stelle.

Ein Sieg für die, denen das Wasser bis zum Hals steht.
Ein Weckruf für die, die noch glauben, das alles gehe sie nichts an.

Hierzulande allerdings flackert die Nachricht höchstens mal kurz durch den Nachrichtenstrom, bevor sie wieder versickert – irgendwo zwischen EM-Aus der Frauen, Richterwahl-Debakel und „gefühlt normalem“ Sommer. Normal ist jedoch an diesem Juli 2025 gar nichts. Wir müssen aufwachen – nicht irgendwann, sondern auf der Stelle.

Hitze? Was für ein Zufall.

Wie gesagt: Es ist Juli 2025. Mannheim schwitzt. Ganz Deutschland schwitzt. Der Dürremonitor färbt sich tiefrot, die Freibäder platzen aus allen Nähten, die Äcker vertrocknen – und während wir kollektiv versuchen, durchzuhalten, mit Ventilator, eisgekühltem Minztee oder resigniertem Achselzucken – leugnen viele noch immer den Klimawandel.

Spoiler: Das was ihr grad merkt, das isser.

Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Wir leben wir in einem Land, in dem Millionen den Begriff „menschengemachter Klimawandel“ für noch immer wie eine Meinung behandeln. Wo Politiker:innen nicht nur von der zurecht auf dei Ersatzbank geschickten fdP von „Technologieoffenheit“ schwatzen (Gruß geht raus an Doro Bär), wenn sie eigentlich fossile Pfade meinen. Wo Wärme-, Verkehrs- und Agrarwende hinter Schlagworten und Machtspielen verschwinden.

Die derzeitige Behördenleiterin des BMWE, Bundesministerin für Wirtschaft und Energie Katherina Reiche (CDU) präsentiert sich als „pragmatisch“ – was derzeit leider heißt: rückwärtsgewandt, konzernfreundlich, konfliktscheu. Unter ihrer Führung wurde der Solardeckel wiederbelebt, Windkraft an Land ausgebremst und das Heizungsgesetz bis zur Unkenntlichkeit entkernt. Statt Wandel zu gestalten, verwaltet sie Stillstand mit PR-Sätzen und arbeitet daran, Atomkraft als nachhaltige Energhie zu definieren.

Dabei ist nichts davon überraschend.

Schon 1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“. Er warnte vor Ressourcenübernutzung, exponentiellem Wachstum – und einer sich abzeichnenden Klimakrise. 1992 folgte „Die neuen Grenzen des Wachstums“, 2004 dann das 30-Jahre-Update zu den Berichten. Immer wieder dieselbe Botschaft: Wir wissen Bescheid, die Fakten liegen auf dem Tisch, doch wir tun trotzdem zu wenig. Auch der Weltklimarat IPCC spricht Klartext: Die Erderwärmung ist menschengemacht (IPCC-Sonderbericht „Global Warming of 1.5°C“ vom Oktober 2018).

Noch haben wir Handlungsspielräume. Aber sie schrumpfen rapide – und was sagt die Bundesregierung? Man setze auf „Innovationen“ und „Technologieoffenheit“. Klingt gut – meint aber oft nur: Wir behalten das Alte bei, solange es geht. Ein SUV, der E-Fuels fährt (also reine ), neu eingebaute Gasheizungen, die „wasserstoffready“ sind. Hauptsache, es klingt modern an. Tatsächlich sind diese Lösungen teils Science-Fiction, teils teuer und ineffizient – und vor allem Nebelkerzten, die von echten, einschneidenden Veränderungen ablenken. Empfehlenswert ist hier z. B. die Titelstory Die Mär von
grünen Kraftstoffen im DUHwelt-Magazin 1/24.

Wir leben mittendrin.

Wir duschen kürzer, trennen brav den Müll, der dann gemeinsam im Heizkraftwerk verfeuert wird, reden über grüne Apps – und versieglen fleißig weiter Böden. Hauptsache, der Strompreis stimmt (zumindewst für die Industrie), und das Tempolimit bleibt ein Tabu.

Es wäre wirklich zum Lachen, wenn es nicht so tragisch wäre.

Aber: Es ist noch nicht zu spät.

Wir brauchen nicht (nur) technische Lösungen, sondern gesellschaftliche Ehrlichkeit. Vor allem aber brauchen wir politisches Handeln, das endlich aufhört, den Planeten dranzugeben, damit der schönen Wirtschaft und den Dividenden nichts passiert. Nicht nur Klimaziele auf dem Papier, sondern einen klaren Bruch mit der Illusion, dass alles bleiben könne, wie es ist.

Wenn wir nichts ändern, wird sich alles ändern – und das wird nicht schön.


Quellen und weiterführende Links:

ComIndirect

Ein Hilferuf aus der Servicewüste Deutschland

Neulich erreichte mich dieser Brief. Also ein echter, gedruckter Brief. Drei Seiten auf Papier. Von comdirect. Schon das allein ist verdächtig, denn das Letzte, was ich von dieser Bank in Papierform bekam, war ein aussageloser Werbeflyer zum Thema „Digitalisierung – wir sind bereit“.

Der Inhalt des Schreibens: Man habe „in den letzten Monaten mehrfach versucht, mich zu kontaktieren“. Ah ja. Wann genau? Zwischen den Spam-Mails zur ETF-Vorsorge und den Push-Nachrichten über das neue Design der App? Oder im geheimen Morsecode über meine Kontoauszüge, die ich nie abrufe?

Nun, jedenfalls sei ich nun dringend aufgefordert, mich zu melden – andernfalls werde man mein Konto fristgerecht kündigen. Eine erfrischende Mischung aus Gaslighting und passiv-aggressivem Schlussmachen per SMS. „Es liegt nicht an uns, es liegt an Ihnen, Herr Hoffmann.“

Pflichtbewusst rufe ich Schaf also die Hotline an – wie ein braver Kunde, der noch an Kommunikation glaubt. 17 Minuten lang lausche ich einer digital bimmelnden GEMA-freien Warteschleife, die sich wie ein musikalisches Stockholm-Syndrom in mein Ohr brennt. Schließlich meldet sich zu meiner kompletten Überraschung ein Mensch. Also, eine Stimme mit Namen. Ich nenne meine Kundennummer, mein Anliegen, wäre sogar bereit, ihm meine Schuhgröße zu offenbaren, doch der gute Mann unterbricht mich unsanft, aber bestimmt: Ohne meine achtstellige Identifikationsnummer könne er mir nicht weiterhelfen.

Ich entgegne, dass ich diese Nummer nicht kenne. Das sei, erklärt er, kein Problem – ich könne jederzeit online eine neue beantragen. Das dauere hächstens ein paar Tage. In seltenen Fällen Wochen. Man wisse es nicht genau, man sei ja schließlich bei einer Direktbank.

Nach Erhalt der neuen Nummer, so der weitere Plan, dürfe ich ihn dann erneut anrufen, um dann vielleicht – mit etwas Glück und der Gunst der Götter – mein Problem schildern zu dürfen. Also. vielleicht. Falls dann nicht wieder eine andere Nummer fehlt.

Ich frage mich, ob Kafka je daran gedacht hat, eine Novelle über Online-Banking zu schreiben. „Der Prozess“ wirkt im Vergleich zu comdirect jedenfalls wie eine recht transparente Angelegenheit. Ich hätte nicht gedacht, dass man im digitalen Zeitalter (ja, ich weiß, Neuland …) ausgerechnet bei einer Direktbank eine solche Freude an verpasster Kommunikation entwickeln kann.

Jedenfalls warte ich jetzt. Das kann ich super. Geduld ist meine ganz große Stärke. Auf die Identnummer. Auf den nächsten Hotline-Termin. Auf den Moment, in dem comdirect mir mitteilt, dass sie es erneut „mehrfach versucht“ haben, mich zu erreichen.

Vielleicht schreiben sie diesmal eine Nachricht in den Sand. Oder schicken einen Raben. Ich jedenfalls bleibe bereit – mit Kundennummer im Herzen und achtstelliger Sehnsucht im Blick.

Nach dem neunten Leben

Dein Spieltunnel:

Weggeräumt

Aber nicht deine Lieblingsdecke.

Der Kater

Will dich locken

Verwirrt

Dass nach neun Jahren

Erstmals sein Spiel du nicht störst.

Im Sommerwind auf dem Balkon

– warum schüttet es eigentlich nicht? –

Treibt eine Flocke von deinem Fell.

Im Napf

Dein letztes Nassfutter

Angetrocknet

Wir konnten es noch nicht beiseite tun.

Alles im Haus

Alles

Wartet

Dass du um die Ecke kommst

Lautstark maunzend protestierst

Weil es wieder keinen Thunfisch gibt.

Bist doch noch

In jedem Raum

In jedem Traum.

Flausch. Ein Nachruf

Flausch ist tot.

Sie kam zu uns zu einem Zeitpunkt, als ich gar nicht sicher war, ob ich schon wieder mein Herz an eine Katze hängen kann. Doch als wir sie und ihren „Bruder“ Bär zum ersten Mal sahen, war es um uns geschehen. Sie kamen nicht ins Tierheim, sondern zu uns.

Seither hat sie neuneinhalb Jahre hinter der Wohnungstür auf uns gewartet, wenn wir mal etwas länger weg waren und zurückkamen. Sie hat auf meinem Bauch geschnurrt, wenn ich auf der Couch liegend Serien gebinget habe. Sie war mir eine bessere Freundin als mancher Mensch.

Eigentlich hieß sie Apple Pie, aber wer sie einmal sah, wusste, wie inadäquat dieser Name für sie war:

Flauschinskaja Trotzki Stormborn. First of her name. Devourer of Leckerlis. Tormentor of grasshoppers. Das ewige Kitten mit dem Killerinstinkt. Die Rückenschläferin unter den Ragdolls.

Flausch ist klar, wenn man sie sieht. Trotzki war nach fünf Minuten klar, wenn man sie erlebt hat. Lautstark erinnerte sie einen an ihren sehr eigenen Kopf, und heute noch hat sie sich, den Tod schon vor Augen, nicht die Treppe hochtragen lassen, sondern hat sie aus eigener Kraft bewältigt. Und Stormborn, weil sie bei Wind und Wetter auf ihrem Lieblingsbalkon lag und es genoss, wenn Luft durch ihr weiches, langes Fell strich.

Wir hatten beide die Hand in diesem weichen langen Fell, als wir heute bis zum Ende bei ihr waren. Sie hat den Kampf gegen den Tumor verloren.

Flausch ist tot, und ich finde keine Worte, um aufzuschreiben, wie weh mir das tut.

Flausch ist tot. Aber ich habe noch ihre Haare in meinen Lieblingsklamotten.

Farewell, Pinselohrin.

Danke, dass du unser Leben fast zehn Jahre lang so viel reicher gemacht hast.

Gute Reise, Flausch Stormborn.

Der Wind, der um den toten Kirschbaum tanzt, flüstert deinen Namen.

Vielleicht geht’s ja um Mord?

Angelika Niestrath und Andreas Hüging in Palma/Isla Baleares. Foto: Olaf Ballnus

Manchmal bekommt man von einem coolen Verlag ein Exposé gezeigt, verbunden mit der Frage, ob man Lust hat, daran als Lektor zu arbeiten, das einen innehalten lässt. Nicht weil es das Rad neu erfindet. Aber weil es eine ganz eigene Tonalität hat. Eine wiedererkennbare Handschrift. man ist angenehm überrascht und sagt: „Ja klar!“ So ging es mir kürzlich – als zwei alte Hasen plötzlich ganz neue Wege einschlugen.

Angelika Niestrath und Andreas Hüging – das sind Namen, die man aus dem Kinderbuchbereich kennt. Ihre Bücher – klug, witzig und oft ein bisschen anarchisch – haben sich in viele Familien eingeschrieben. Andreas ist Musiker und schreibt mit rhythmischem Gespür, Angelika bringt jahrzehntelange Erfahrung im Buchhandel und einen ganz eigenen Blick auf Geschichten mit. Gemeinsam erschufen sie unter anderem die Straßentiger-Reihe oder die Storys um Roki, einen Roboter mit Herz und Schraube.

Doch was passiert, wenn zwei kinderbucherprobte Kreative sich austoben gehen – mit der klaren Ansage: „Jetzt machen wir mal was ganz anderes“?

Genau das darf ich als Lektor nun begleiten. Ich sage nur so viel: Es ist kein Kinderbuch. Es ist keine Musikstory. Es ist … sagen wir: unterhaltsam auf eine Art, die Erwachsene freuen wird. Humorvoll, schräg, liebevoll geschrieben – mit einem Blick für Details und eine Freude an Typen, die man gerne beobachtet, von denen man manche aber nur ungern zum Kaffee einladen würde.

Was ich nicht sagen darf: Titel, Inhalt, genaue Richtung, Schauplatz und Figuren.
Was ich sagen kann: Es erscheint, wenn wir im Plan bleiben – und davon gehe ich bei drei Profis in einem Boot aus – im Mai 2026. Es wird anders, und es trägt das Markenzeichen von zwei Menschen, die ihr Handwerk verstehen – und sich trotzdem trauen, ausgetretene Pfade zu verlassen.

Ich freue mich sehr auf dieses Buch – und bin gespannt, wie viele von euch es im Regal des Buchhandels vor ort (buy local!) erkennen werden, wenn es so weit ist. Keine Sorge: Ich sage euch rechtzeitig Bescheid.

Vielleicht darf ich um die Buchmessen rum schon mehr verraten. Bis dahin sage ich nur: Spannung mit Augenzwinkern – versprochen.